Samstag, 28. Oktober 2017

#Lav yu Göhte


Der Zufall hat mir ein Taschenbüchlein des Fischer Verlags in die Hand gespielt, das ich als Bereicherung empfinde. Verschiedene Autoren äußern sich „Zum Thema Goethe“, so der Titel des schmalen Bändchens. Eine Ansprache Sigmund Freuds im Frankfurter Goethe-Haus ist abgedruckt. Der berühmte Seelenerforscher war der dritte Träger des Goethe-Preises, der 1927 gestiftet worden war. Wegen seiner Krankheit war Freud außerstande, die Rede selbst zu halten; statt seiner las Anna Freud den Text am 28. August 1930 vor, dem Geburtstag Goethes.
Diese Details hätte ich kaum beachtet, wäre mir nicht aufgefallen, dass Freud  ein selten gespieltes  Stück als Goethes vielleicht erhabenste Dichtung bezeichnet, „Iphigenie auf Tauris“. Das Stück gilt als realitätsfern, Bildungsliteratur, Abitursthema – kurz, als langweilig. In der Biografie von Richard Friedenthal wird betont, dass Schiller bestimmte Szenen für so unwahrscheinlich hielt, daß er dem Stück Bühnenwirksamkeit absprach. Es geschehe nichts, man rede nur miteinander.
Ist das Erhabene langweilig? Ich wollte es wissen und habe das vor vielen Jahren erstmals gelesene Drama noch einmal vorgenommen. Damals hat es mich wenig berührt, obgleich die Schönheit einiger Verse mir auffiel. Gemerkt habe ich mir den Anfang, wo Iphigenie am Strand steht, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“.
Die neuerliche Lektüre aber hat mich tief bewegt und sogar, wie ich gestehe, zu Tränen gerührt. Es liegt nicht an der äußeren Handlung, deren Statik Schiller bemängelt hat. Durch Freuds Hinweis aufmerksam geworden, achtete ich auf das innerpsychische Geschehen der Figuren und besonders der Hauptfigur.
Iphigenie stammt aus einem Geschlecht, dessen Mitglieder von furchtbaren Morden belastet sind. Eine Göttin entführt sie nach Tauris, wo man anlandende Fremde einer Göttin opfert, deren Priesterin Iphigenie wird. Ihr widersteht der barbarische Brauch. Im Einvernehmen mit dem Herrscher, der sie heiraten möchte, kann sie Fremde retten – auch zwei griechische Landsleute, was umso bedeutsamer ist, als einer von ihnen ihr Bruder Orest ist. Er wird wegen Muttermordes von Furien gehetzt und glaubt, eine Weissagung missdeutend, der Fluch würde von ihm genommen, wenn er das Bild der Göttin raube. Zugleich mit diesem Bild will er die Schwester entführen.
Iphigenie geht darauf ein. Doch weil der Herrscher ihr zum zweiten Vater geworden ist, bringt sie den Verrat nicht über sich und gesteht ihm den Plan. Der Herrscher gibt sie frei.       
Kritiker halten das für eine Beschönigung. Gewalttätigkeit sei nicht durch Aufrichtigkeit zu besiegen.
Freud aber denkt nicht an Politik. Er schreibt: „In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der ‚Iphigenie’, zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung, einer Befreiung der leidenden Seele von dem Druck der Schuld, und er läßt diese Katharsis sich vollziehen durch einen leidenschaftlichen Gefühlsausbruch.“
Dass eine Ent-Deckung verdrängter Schuld befreiend wirkt und als heilsam empfunden wird, hat Freud bei der Behandlung seiner Patienten erfahren. Goethe wird es schreibend erfahren und empfunden haben.     
Und wir Nachkriegs-Deutschen, denke ich, wissen es auch.



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